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Gesellschaft der Germanisten Rumäniens (GGR) - www.ggr.ro

 

 

VORTRÄGE AUF DEM V. KONGRESS DER GERMANISTEN RUMÄNIENS (I. Teil):

 

Literaturwissenschaft

 

Kafkas Josefine, Die Sängerin oder das Volk der Mäuse. Eine multiperspektivische Interpretation

 

Iulia Pãtruþ


 

1. Einleitung: Josefine oder das Volk der Mäuse - "Zwei gleichgewichtete Waagschalen"?

 

"Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber."

        (Der Prozeß)

 

Wer steht im Mittelpunkt der Erzählung "Josefine…"?[1] Ist es, wie sich durch die naheliegende Parallele zum Hungerkünstler und dem Trapezkünstler vermuten ließe, hier die Gesangskünstlerin - eine singende Maus?

Tatsächlich wird in diesen Texten die individuelle Produktion einer künstlerischen Leistung beleuchtet: Etwa die Frage nach der Selbstbehauptung des Künstlers / der Künstlerin im "Werk", die Konfliktsituation der Kommerzialisierung (Zur-Schau-Stel-lung) von Kunst am oder mit dem eigenen Körper, oder auch die Individualisierung, die Privatisierung der nicht verständlich zu machenden Kunst.

Josefine singt, für sie ist der Gesang ihr Lebensinhalt; sie möchte, daß es die einzige Arbeit sei, die sie für die Gemeinschaft verrichtet. Und - sie ist sich sicher, daß niemand ihren Gesang versteht so wie sie ihn verstanden haben möchte.

Robertson weist, jedoch darauf hin, daß der Titel der Erzählung aus zwei gleichgewichteten Waagschalen zusammengesetzt ist, und daß dementsprechend die Perspektive des "Volkes der Mäuse" in der Interpretation nicht zu kurz kommen darf.

2. Das Volk: selbstorganisierte Gesellschaft und Kunstrezepzion?

In seiner Analyse widmet Robertson sich insbesondere verschiedenen Allegorien, die als Interpretationsansätze für das "Volk" in Frage kämen. Handelt es sich also, wie er vorschlägt, bei dem Volk der Mäuse um ein Konstrukt der Fürsorglichkeit mit dem "politische Reaktionäre prämoderne Gesellschaften"[2] evozieren? Nach seiner Interpretation, die auf biographische Episoden, wie der Teilnahme Kafkas an zionistischen oder bewußt die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk betonenden Veranstaltungen rekurrieren, wäre das Volk der Mäuse eine nostalgisch-nationalistische Masse. Die Bezeichnung "Volksgenossen", für die Mäuse ordnet Robertson dem "Dunstkreis des Völkischen"[3] zu.

Dem wäre jedoch entgegenzuhalten, daß sich die im Text beschriebene Gruppe zwar über ihre Volkszugehörigkeit von den "Feinden" abgrenzt, nicht jedoch negative Beurteilungen anderer "Völker" und kein überheblich-offensives Selbstlob des Mäusevolkes geäußert werden. Eine "herrschende völkische" Meinung scheint mir aus dem Text nicht ableitbar zu sein.

Ich würde daher eher Sellinger zustimmen, wenn sie das Volk der Mäuse als herrschaftsfrei versteht, als das "Modell einer Gesellschaft bzw. Gemeinschaft", dessen "Ordnung ganz in den Händen des Volkes liegt."[4]

Der Konflikt zwischen Herrschaft und Autorität ist hier, anders als in den meisten Werken Kafkas laut Sellinger nicht vorhanden. Wenn hier "das Gesetz nur dem Volk gehört", ein Gesetz, das alle kennen, - so könnte Sellinger ihre Interpretation fortführen - wird hier nicht eine basisdemokratische, solidarische Gesellschaft beschrieben, deren Mitglieder alle "Genossen" genannt werden? Das Volk hat wieder eine Künstlerin, jemanden, der die Botschaft der Zugehörigkeit zu den Verfolgten, das Bewußtsein, Teil der ständig Widerstand leistenden Gemeinschaft zu sein, vermittelt. Denn Josefine leistet Widerstand, gegen die tradierten Formen des Gesangs, so wie sie in dem altüberlieferten Mythos der wahren Kunst allen bekannt sind. Und ihr schwaches Pfeifen wird in diesem Sinne als Symbol des ständig bedrohten, im Alltag verfangenen Daseins der Mäuse begriffen.

Es wäre also möglich, das Volk hier nicht als national definiert aufzufassen, sondern eher als selbstverwaltete und selbstorganisierte Gemeinschaft Verfolgter ohne eigene Herrschafts- und Machtstrukturen. In diesem Sinne - einer herrschaftsfreien Gemeinschaft Verfolgter - wäre eine Interpretation von "Volk" als "jüdisch" (so wie sie Robertson skizziert) akzeptabel, freilich ohne daß der Text in dieser Allegorie aufginge.[5]

Bei dieser Denkfigur verbleibend kommt aber noch die Frage nach der volksspezifischen Rezeption von Kunst auf. In dieser Gemeinschaft, die der Text konstituiert, wird nämlich Kunstrezeption auf "perfekte" Weise vollzogen. Der Text verweist auf eine intensivierte Kunstrezeption, die gerade durch das aus "wirtschaftlichen Rücksichten" Verstreutsein (363) und wieder - zum Zwecke der Kunstrezeption - Zusammenkommen, sowie durch das Verfolgtsein als gemeinsame, zur Masse zusammenschweißende Eigenschaft, zustande käme.

Unabhängig davon, ob eine "nationale" Auslegung des Volkes angenommen wird, scheint mir aber der Hinweis auf die Homogenität des Volkes, was die Entscheidungs- und Bewertungsmechanismen anbelangt; diese gleicht einer allgemeinen Solidarisierung um gesetzlich verfestigte Prinzipien, die beispielsweise festlegen, was als "Arbeit" anerkannt wird und was nicht.

3. Die Künstlerin: Autorität ohne Macht und Unvollkommenheit der Performanz

Die Künstlerin ist Teil des Volkes und Zufluchtspunkt, Autoritätsfigur ohne besondere Macht in dieser Gesellschaft ohne politische Oberhäupter, und die produzierte Kunst wird zum Sinnbild der gemeinschaftlichen

(Volks-)Existenz, "fast wie die armselige Existenz unseres Volkes mitten im Tumult der feindlichen Welt" (363).

Lubkoll spricht in ihrem Aufsatz "Dies ist kein Pfeifen…" zwar von einer Machtposition, die Josefine angeblich innerhalb der Gesellschaft der Mäuse innehaben soll. Aus diesem Gedanken entwickelt sie eine Interpretation, die das Resignifizieren und die Subversion des Weiblichen in dieser Erzählung annimmt.[6] Jedoch scheint es vielmehr, daß Josefine gerade die traditionell für "Weiblichkeit" bedeutungsgebende gesellschaftliche Machtlosigkeit  in transparenten Herrschaftsstrukturen durchaus teilt: Sie ist nicht in der Lage, der Benennung ihrer künstlerischen Produktionen als "Singen" gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen.

Kunst wird zwar, in der Unvollkommenheit ihrer Performanz, zum Symbol des Widerstandes und der Zuflucht im unvollkommenen Kriegs- und Verfolgungszeiten.[7] Josefine ist aber zugleich die Künstlerin ihrer Zeit und ihrer Gemeinschaft der Verfolgten, die Stimme des Volkes - und nicht ihre eigene Stimme.

Mit der "niemals ganz aufgeklärten Stellung" Josefines befaßt sich Vogl in dem Band "Ort der Gewalt" ausführlich. Dazu fragt er, ob "das schwache und dünne Pfeifen eines Einzelnen, das nur das Allgemeine und Übliche auf besondere Wiese wiederholt"[8] in Josefines Gesang inszeniert wird, oder ob es "die gewaltige und abwesende Stimme der Gemeinschaft" ist, "die sich selbst in der Stimme des Gesangs erfährt".[9]

Für Vogl handelt der Text nicht vom Verhältnis zwischen Künstlerin und Gesellschaft, sondern von dem zwischen Einzelner und Gemeinschaft. Dies sei geprägt von einer doppelten (Selbst-)Spiegelung des Mythos der Gemeinschaft, der sich in einem ursprünglichen Gesang über die Ordnung der Dinge abgebildet haben soll; der Text bietet tatsächlich Anlässe für eine solche Interpretation:

"Trotz unserer Unmusikalität haben wir Gesangsüberlieferungen; in den alten Zeiten unseres Volkes gab es Gesang; Sagen erzählen davon und sogar Lieder sind erhalten, die freilich niemand mehr singen kann." (351)

Doch geht es dabei nicht allein um den Mythos Gemeinschaft, sondern auch um den der "wahren", "reinen" Kunst, hier am Beispiel des Gesangs. Der Text wirft unmittelbar die Frage auf: Was ist Kunst? Gibt es einen essentiellen Wert, eine essentielle Leistung wahrer, reiner Kunst frei von gesellschaftlicher Kontextabhängigkeit, von der Würdigung des Publikums?

Keineswegs, möchte man antworten, und zur Unterstützung dieser Position findet sich im Text die harte Ablehnung des Volkes, in dem Moment, als Josefine "vollständige" Anerkennung ihrer Kunst und Befreiung von jeglicher anderen Arbeit fordert (368f.).

Josefine bleibt auch als Künstlerin innerhalb der Gesetze ihrer Gesellschaft, in den sozialen, politischen und ökonomischen Abhängigkeiten ihrer Zeit verankert. In diesem Sinne wäre die einstimmige Entscheidung des Volkes als eine Ablehnung der l´art pour l´art zu verstehen. Als Gegenentwurf bleibt die Forderung Josefines nach Anerkennung in ihrem eigenen Sinne, was sie aber selbst für unmöglich hält, da das Volk "ohnmächtig ihre Kunst anstaunt", ihre Kunst "außerhalb seines Fassungsvermögens" ist (368). Dieser individualisierte, private Anspruch auf den Zugang zum ursprünglichen, mythischen Gesang ist, so wie der fiktive Ich-Erzähler es darstellt, der Grund für das Scheitern Josefines, während ihr Aufsteig und Erfolg gerade aus der Imperfektion - Vogl würde sagen: aus dem Schweigen des Gesanges kam.

Der Text enthält an mehreren Stellen scheinbar gegenläufige Positionen, die aber bei näherer Analyse als komplementär erscheinen. Offenbar paradox Anmutendes ist kunstvoll zum Ausdruck gebrachte semantische Polyvalenz, die oft bis an die Grenzen des Faßbaren, an philosophische Kernprobleme geht und freilich keine Auflösung erfahren kann.

Für das Gesetz der Mäuse ist es unwichtig, ob Josefine singt oder nicht, sie wird nicht geschont und muß gleiche Arbeiten wie die anderen Gemeinschaftsmitglieder verrichten. Außerdem ist dieses Gesetz des Volkes ebenso imperfekt wie der Gesang Josefines - wieder ein Beispiel für die Verhältnismäßigkeit, die Entsprechung von Künstlerin und Volk. Obwohl hier - was bei Kafka eine Seltenheit ist -, wie bereits oben in Anlehnung an Sellinger angeführt wurde, von "allen" auf Basis eines allgemeinen Übereinkommens konsensual festgelegt wird, welches das Gesetz bzw. seine Auslegung in einem bestimmten Fall sei, bedeutet dies nicht, daß dem Einzelnen, in diesem Fall der Künstlerin, eine menschen- bzw. "mäusewürdige" Existenz gewährleistet wird. Die Frage nach der Kondition des Künstlers / der Künstlerin und der freien Berufswahl bleibt nach diesem Gesetz offen.

4. Der Prozeß des Textes: Eine Gegen-Lektüre zu Hans-Thies Lehmann

Nachdem nun ein kurzer Überblick zu möglichen Perspektiven auf das "Volk" sowie auf die Künstlerin und ihren Gesang skizziert wurde, werde ich, vor dem Übergang zur Frage des Ich-Erzählers auf einen gänzlich anders orientierten Interpretationsansatz eingehen.

Dieser zuweilen biographisch argumentierende Ansatz[10] versucht, zum einen die sprachliche Selbstreferentialität von Kafkas Erzählung, zum anderen den graduell fortschreitenden Entzug der semantischen Referenz darzustellen.[11] Die Auseinandersetzung mit Kafkas Verhältnis zur Sprache ist tatsächlich - nicht zuletzt in seinen Tagebüchern[12] sehr aufschlußreich; wahr ist auch, daß sich seine Texte einer eindeutigen Interpretation konsequent entziehen, häufig wegen einer polyvalent konzipierten Grundproblematik, die auf den ersten Blick den Eindruck des nicht Zuordenbaren erweckt.

Gibt es irgend eine einleuchtende Wahrheit, auf die Kafkas Text verweist? Oder ist er vielmehr ein Ausdruck der zermürbten Bedeutung, die Interpretationsversuche aussichtslos zu flicken versuchen? Ich werde anschließend versuchen zu zeigen, daß in den Ausführungen Lehmans ein Widerspruch von den Antworten auf diese Fragen ausgeht.

 "Insofern stellt Kafkas Werk insgesamt etwas dar, was in dem >>Kommentar<< Gib´s auf mitzuhören ist"[13] - so wird die Suche nach einer "wahren Bedeutung" in Kafkas Texten abgetan. Doch gerade um den Wahrheitsbegriff scheint sich in dieser Interpretation ein Widerspruch aufzubauen. Denn an anderer Stelle spricht Lehmann doch von einer absoluten Wahrheit, die aus den Texten Kafkas herausgelesen werden kann:

So "vermag sich die Wahrheit nur durch eine virtuell unendliche Ausleerung, ein Dünnwerden und Aushungern, ein Entziehen und Zurücknehmen des Außenbezugs der Sprache zu manifestieren"[14]. Die Gegenfrage drängt sich auf: gibt es also doch eine Wahrheit, die sich in Kafkas Werk offenbart?

Und, erweist sich die Argumentation von der Nicht-Referenzialität, von dem nicht einzuholenden "Sinn" der Texte nicht als Paradoxon, wenn am Ende doch eine alles auflösende Referenz der absoluten Schrift -bzw. des Klagens über die Unmöglichkeit der perfekten Mimesis einer solchen göttlichen Schrift die auf schöpferische Weise "nichts mitteilt" angeboten wird?

Einen zweiten Widerspruch sehe ich in dem Pendeln zwischen einer Essentialistischen und Antiessentialistischen Herangehensweise. Mit Derrida von différance als beste Beschreibungsmöglichkeit von Wahrheit in Kafkas Texten zu sprechen, ist für mich durchaus überzeugend. Auslegungen, die keine eindeutige, präexistente Wahrheit suchen, die hinter Kafkas Texten verborgen steht, werden seinen Schriften am ehesten gerecht. Doch der nächsten Schritt zu der Verabsolutierung der essentialistisch gedachten, unzugänglichen und ganz und gar nichts kommunizierenden Schrift als Kafkas einzige Referenz scheint mir aus der Textlektüre nicht plausibel ableitbar.

Der wichtigste Grund ist dabei gerade daß ich nicht sehe, wie Kafkas Texte,- so auch nicht Josefine… - auf ein einziges Prinzip überzeugend zu reduzieren seien.

Ich halte es gerade für eine außergewöhnlich beeindruckende künstlerische Leistung, daß unterschiedliche Ansätze und Perspektiven in den Texten zusammen gedacht werden; das, was ein "Volk" zusammenhält, das, was "Gesang" oder "Kunst" ausmacht, das Spannungsverhältnis zwischen Anpassung der Performanz und Rezeption - ist das in "Wirklichkeit" eindeutig zu definieren? - Anders gesagt: wieso sollten wir den Verweis auf eine eindeutige, vollständige und abgeschlossene Wahrheit in Kafkas Texten voraussetzen? Es scheint mir weiter zu führen, eine potentiell unendliche Anzahl an Zusammenhängen, auf die der Text verweisen kann, vorauszusetzen.

Für mich verweist, wie oben gezeigt, der Text Josefine etwa auf Aspekte der Beschaffenheit von Kunst, der Koordinaten des Künstlerinnnen- und Künstlerdaseins, aber auf Aspekte des individuellen Daseins in der Gemeinschaft sowie der Macht, der Herrschafts(freiheit) und der Gesetzgebung. Lehmanns Interpretation würde aber all diese Aussagen verneinen.

Ich werde im folgenden darzulegen versuchen, weshalb ich sie auch von der konkreten Gedankenführung her nicht überzeugend finde.

Erstens bleibt der Grund, weshalb Lehmann aus der Frage "Ist es überhaupt Gesang?" einen Entzug der Referenz ableitet, unklar. Schließlich ist es nicht außergewöhnlich, einen Gegenstand der Betrachtung - in diesem Falle die Performanz Josefines-, der gewohnheitshalber einer begrifflichen Kategorie - hier dem Gesang - zugeordnet wurde, noch einmal auf diese habituell attribuierte Zugehörigkeit zu prüfen. Wäre der Erzähler zu dem Schluß gekommen, "es scheint keinen Gesang zu geben", dann hätte man tatsächlich von einem Durchstreichen der Referenz sprechen können; in Kafkas Text aber handelt es sich schlicht um eine Neudefinition der Performanz Josefines, die anhand einer Prüfung der Teilaspekte, die den Gesang oder vielmehr dessen Darstellungs- und Wahrnehmungsformen konstituieren, stattfindet.

Über den ganzen Text werden allgemein übliche Denkvorgänge, wie etwa den, einen performativen Betrachtungsgegenstand in seinen Teilaspekten aufzufassen, in verschiedene (gesellschaftliche) Kontexte zu plazieren, in gedankliche Sackgassen zu geraten, diese aufzugeben und neue Erkenntniswege zu suchen, protokolliert. In diesem Sinne erscheint die Erzählung als eine akribisch-genaue Protokollführung über Denkvorgänge, die dort anzusetzen versuchen, wo es nur eine minimale Anzahl an Voraussetzungen gibt.

Lehmanns Ansatz irritiert durch seine Eindimensionalität, mit dem er diesem, so viele Interpretationen zulassenden Text entgegentritt. Schon im ersten Absatz werden gleich mehrere unzulässige Schlüsse gezogen. Lehmann zitiert folgende Textstellen:

">>Unsere Sängerin heißt Josefine. Wer sie nicht gehört hat, kennt nicht die Macht des Gesangs. Es gibt niemanden, den ihren Gesang nicht fortreißt(…)>>, und weiter, <<(…) was um so höher zu bewerten ist, als unser Geschlecht im Ganzen die Musik nicht liebt>>. Zwischen diesen beiden Aussagen sieht Lehmann eine sich aufbauende Relativierung des Lobes, eine Art fortschreitende "Verundeutlichung" der Aussagen.[15] "Kann denn, so fragt sich der Leser, das Urteil eines solchen <<Geschlechts>> viel besagen? Schon ist die erste Aussage gleichsam durchgestrichen oder verblaßt."[16]

Wieso sollte denn ein Geschlecht, das einen bestimmten Betrachtungsgegenstand nicht liebt, aus diesem Grunde kein Urteil über die Macht, die von ihm ausgeht, fällen können? Ganz im Gegenteil, es könnte sogar von Nachteil für ein richtiges Einschätzen der Macht sein, wenn das Machtausübende zugleich Gegenstand der Liebe des Urteilenden ist.

Als nächste "Streichung" identifiziert Lehmann den Satz "Stiller Frieden ist uns die liebste Musik" und sieht darin eine Unvereinbarkeit mit dem "Fortreißen" durch den Gesang Josefines, das am Anfang von Kafkas Text genannt wird.[17] Die beiden Aussagen tangieren sich jedoch nicht einmal. Es ist bekanntlich sehr wohl möglich, daß ein Geschlecht sich "fortreißen" läßt von einem Machtausübenden, den es nicht liebt. An Beispielen fehlt es nicht: ein politisches Regime, eine institutionalisierte Religion usw.

Wieder ganz im Gegenteil, das Wort "fortreißen" enthält bereits die Konnotation einer Unliebsamkeit, es wäre verwunderlich gewesen, wenn das Volk den Gesang Josefines geliebt hätte, dann nämlich hätte es sich nicht von seiner Macht fortreißen lassen müssen, sondern wäre ihm freiwillig gefolgt.

In demselben Absatz noch benennt Lehmann eine dritten "Entzug des Gegebenen": Eine Textstelle wird zitiert, die besagt, daß das Volk der Mäuse kein Verlangen nach dem Glück hat, das von der Musik ausgeht, daß es außerdem gar nicht weiß, ob es ein solches Glück gibt, und daß schließlich, im hypothetischen Fall, es hätte einmal ein Verlangen nach diesem Glück, es dieses Verlangen durch die angelernte schlaue Pragmatik des Alltags ignorieren würde. Von hier leitet er die unzulängliche "Aussagekraft des Lobes" über Josefines Gesang ab. Doch was sind es für Lobäußerungen, die im Text vorkommen? Sind es überhaupt Lobäußerungen? Oder sind es vielmehr ganz gewöhnliche, vielleicht rezeptionsästhetische Feststellungen? >>Wer sie nicht gehört hat, kennt nicht die Macht des Gesangs>> und >>Es gibt niemanden, den ihr Gesang nicht fortreißt>>. Es wird weder gesagt, daß der Gesang schön sei, noch daß er Glück oder sonstiges Wohlbefinden verheiße, noch daß er in irgendeiner Form kunstvoll sei, sondern einzig daß er eine fortreißende Macht ausübe. Die Kompetenz, sich über diese Macht zu äußern, ist in keiner Weise abhängig von dem Verhältnis zu und der Auffassung von dem Glück, das eventuell seinerseits vom Gesang ausgeht. Denn eines ist das Glück, das vielleicht von der Musik ausgeht, und etwas anderes ist die Macht, die ihr vom Volk auszuüben gestattet wird. Glück, auf das verzichtet wird, und Macht, von der man sich hinreißen läßt, haben höchstens gemeinsam, daß sie beide Entscheidungen eines unmündigen Subjekts, das nicht zum eigenen Wohl handelt, sein könnten. Ansonsten sind sie aber strukturell voneinander vollkommen verschieden und können deshalb auch nicht als Maßstäbe des jeweils anderen verwendet werden.

Nach Lehmann soll im Text ein gradueller Sinnabbau stattfinden.[18]

Es wird aber vielmehr den ganzen Text hindurch gerade an dieser Referenz gearbeitet, sie wird hinterfragt, verfeinert, an manchen Stellen erweitert, an anderen wieder eingeschränkt, sie wird auf andere Ebenen zwecks des Vergleichs projiziert. Tatsächlich handelt es sich um einen sich schrittweise vollziehenden Erkenntnisprozeß, der durch ständiges Anzweifeln, Befragen und Beantworten bzw. Eingeständnis des Nichtwissens über bestimmte einzelne Teilaspekte, vollzogen wird. Am Ende des Textes wissen wir zweifelsohne mehr über alle Elemente, die in den ersten Absätzen eingeführt werden. Es werden Erkenntnisse gesammelt über den Gesang - als Gegenstand der Erinnerung, als von Josefine deklarierter Gesang, als (ideeller) Gegensatz zum Pfeifen oder zu dem, was gemäß alter Überlieferungen wirklicher Gesang sein soll.

Vielmehr scheint plausibel daß, sobald sich die Lesenden aus dem Netz der eigenen Interpretationen befreien, sie auch der Gedankenbewegung des Textes folgen können und sich nicht länger allein auf die Sprachebene verwiesen fühlen.

Was Josefines Gesang einzigartig macht, ist der Spannungsbogen zwischen seiner gewöhnlichen Form und dem ideellen Wert, den Josefine ihm beimißt. Diese Wertbeimessung glaubt das Volk aus Josefines Umgang mit dem Gesang und aus ihrer Hingabe in seiner Vermittlung, zu erahnen. Es ist dieses Ahnungsmoment, aus dem die Macht des Gesangs entspringt. Die Macht des Gesangs hat ihren Ursprung nicht auf einer sachlichen, rationell definierbaren Ebene, sondern in der Ahnung eines virtuellen Gegenstandes, nämlich der Liebe Josefines zu dem Gesang. Diese Liebe zu dem Gesang ist laut Text die einzige "Differenz" in der gedanklichen Haltung Josefines dem Gesang gegenüber, während auf physischer Ebene die Darstellung eben dieser Haltung, also die Inszenierung des Gesangs, Josefine von dem Volk unterscheidet. Die Ahnung von der Liebe zum Gesang, die jeder, der Josefine beim pfeifen zuhört und zugleich beim Singen zusieht, hat, ist wegen ihres virtuellen Charakters in ihrer Art unverlierbar.

5. Die Position des fiktiven Erzählers: Karikierte Kunstkritik zwischen unverstandener Kunstproduktion und "idealer" Rezeption

In Josefine die Sängerin oder das Volk der Mäuse werden, gespannt um die gedanklichen Spitzen eines Dreiecks, die Problematik der absoluten Kunst, der Kunstperformanz und deren Rezeption zur Diskussion gestellt. Als Diskussionsleiter - im auktorialen Sinne - fungiert das erzählende Ich; der Text liest sich wie ein Protokoll seiner Gedanken sowie geführter Gespräche über die Performanzen einer Künstlerin und über die Bewertung dieser künstlerischen Darbietungen anhand verschiedener rezeptionsästhetischer Auffassungen. Dabei wird mit Meßgrößen wie der Wirkung bei den Rezipienten, den überlieferten Kunstdarbietungen oder einem fiktiven "wirklichen Künstler" operiert. Es werden allgemeine Überlegungen über die Kunst und deren Macht angelegt, die Frage nach dem, was wirkliche Kunst ausmacht, wird aufgeworfen. Dabei nimmt der Ich-Erzähler die Position eines Kritikers ein. Er hinterfragt die künstlerische Leistung, findet sie in ihrer Form, in ihrer materiellen Beschaffenheit einer alltäglichen Geste gleich.

Der Ort für die künstlerische Performanz ist die Inszenierung. Zum einen ist es die Selbstinszenierung der Sängerin, die sich konzentriert, den Blick nach innen gewendet, in eine die Darbietung vorbereitende Pose stellt und auf den Zulauf des Volkes wartet. Zum anderen sind es die "Schmeichler", eine Gruppe die im Dunstkreis ihrer Kunst Gerüchte verbreiten, das Publikum zusammentreiben und Lobeshymnen auf sie singen.

Was meinen aber die anderen Rezipientinnen und Rezipienten, das Publikum der Kunstperformanz? Als ZuschauerInnen und -hörerInnen der Künstlerin, die im Text Josefine heißt fungiert das ganze Volk der Mäuse, das andächtig ihrem Gesang lauscht. Die Rezeptionssituation der Performanz Josefines ist eine ideale, es gibt niemanden, der ihren Gesang nicht hören und von ihm "fortgerissen" sein sollte. Was aber keineswegs gewährleistet, das ihr Gesang das Publikum tatsächlich erreicht. Eine der wichtigsten Fragestellungen des Textes ist die nach der Ästhetik der Rezeption. Versteht das Publikum Josefines Kunst? - Diese Frage ist vor alle Kritikpunkte an ihrem Gesang zu stellen. Um diese zentrale Frage entspinnt sich eine Art Dreiecksbeziehung zwischen Künstlerin, Kunstwerk und Publikum, dies alles unter dem kritischen Blick des Ich-Erzählers.

An dem Verständnis ihrer Kunst richtet sich auch der Konflikt zwischen Künstlerin und Volk aus. Wie weit geht die Anerkennung der Performanzen der Sängerin? Nach welchen Maßstäben werden sie beurteilt? In wieweit fühlt sich die Sängerin selbst verstanden? Welches ist der Stellenwert ihrer Kunst in der Gesellschaft? Und was leitet sich daraus für ihre Existenz- und Kunstproduktionsbedingungen ab?

Schon gleich am Anfang des Textes fallen die völlig diffusen Vorstellungen des Ich-Erzählers über das, was nach seiner Meinung "wahre Kunst" sei. "Eine Ahnung dessen, was Gesang ist, haben wir also und dieser Ahnung nun entspricht Josefines Kunst eigentlich nicht."(S. 351) Eine vage Ahnung wird also als Maßstab für die künstlerischen Performanzen gesetzt, eine Ahnung, die sich laut Erzähler aus über mythische Zeiten berichtenden Sagen und Legenden konstituiert habe. Außer einigen vage formulierten Vorstellungen, wie dem Gefühl der Einmaligkeit, der Einzigartigkeit und der Berufung auf Meinungen aus einer "vertrauten Runde" (S. 351), in der über Josefine gelästert wird, hat der Kritiker nichts an Beurteilungskriterien der Kunst zu bieten. Es liegt nahe, daß diese Textstelle eine Karikatur des primitiv argumentierenden Kunstkritikers enthält.

Die Sängerin wird von dem Kritiker, der gesteht, daß ihr Gesang in ihm keine besonderen Gefühle auslöst, in der Rolle einer Pseudokünstlerin festgeschrieben; worin genau das "Gefühl des Einzigartigen" liegt, das die Kunst Josefines von wahrer Kunst unterscheidet, begründet er nicht weiter. Statt dessen benutzt er ihre leise Stimme, die Tatsache, daß sie weiblichen Geschlechtes ist, ihre zerbrechliche Physis zu ihrer Delegitimierung und Verniedlichung[19]. Die eigene Unverständnis wird dabei zum faktischen Maßstab der Kunst erhoben.

Zugleich wird aber die proklamierte Wertlosigkeit der Performanzen zum Gegenstand der Bewunderung. Die angebliche Schwäche und Zerbrechlichkeit Josefines, die eigentlich schweigen sollte aber trotzdem singt, wird zur Parabel der armseligen Existenz des Volkes "mitten im Tumult der feindlichen Welt" (S. 362) stilisiert. So vereinnahmt die Kritik die Künstlerin mitsamt ihren Performanzen und ihrer Auffassung von Kunst und verwendet sie als bildhaften Beleg für die Unfähigkeit, Außerordentliches und Einmaliges zu produzieren.

So sagt der Kritiker: "Josefine behauptet sich, dieses Nichts an Stimme, dieses Nichts an Leistung behauptet sich und schafft sich den Weg zu uns, es tut wohl, daran zu denken" (S. 362). Der Gedanke an die Unfähigkeit der Künstlerin erfüllt also eine Funktion der Bestärkung in der eigenen Unzulänglichkeit für den Kritiker und auch für das Volk. Dieser Aspekt ist es, der zum Wohlbefinden gebraucht wird, und entsprechend wird vom Erzähler darauf hinaus argumentiert.

"Einen wirklichen Gesangskünstler, wenn einer einmal sich unter uns finden sollte, würden wir in solcher Zeit gewiß nicht ertragen und die Unsinnigkeit einer solchen Vorführung einmütig abweisen" (S. 362), heißt es weiter.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Kritiker keinerlei inhaltliche Anhaltspunkte liefert, was einen "wirklichen Gesangskünstler" ausmachen würde.

Die mangelnde Präzision der Gedankenführung, die ein zweifelhaftes, karikierendes Licht auf den inkompetent erscheinenden Kritiker wirft, findet sich in der hier logisch inkorrekten Formulierung "Abweisung der Unsinnigkeit" wieder. Richtig hätte sich der Kritiker geäußert: "... wir würden eine solche Vorführung einmütig abweisen und deren Unsinnigkeit behaupten."

Mit der darauf folgenden Aussage trägt der Kritiker seine gesamte Unverständnis zur Schau:

"Möge Josefine beschützt werden vor der Erkenntnis, daß die Tatsache, daß wir ihr zuhören, ein Beweis gegen ihren Gesang ist." (S. 362)

Es wird also nur Künstlerinnen oder Künstlern zugehört, die wertloses produzieren. Oder aber wird zugehört, ohne verstehen zu wollen oder zu können.

Der Ich-Erzähler erfüllt das Klischee eines patriarchal-protektionistischen, einseitig argumentierenden, inkompetenten Kunstkritikers. Seine Aussagen über Josefines Kunst und Performanzen sind deshalb als Karikatur, als Ironie zu verstehen.

Aber welche Bedingungen der Kunstproduktion sind es eigentlich, die der Ich-Erzähler (und in seinem Gefolge auch Lehmann) vor den Augen der Leserinnen und Leser "verundeutlicht"?

Der Erzähler berichtet, sie sei die einzige im ganzen Volk, die ihre Kunst, die Musik, liebe. Ihr Gesang erfülle sie ganz, verleihe ihr fast übernatürliche Kräfte, und jeder, der sie ansähe während sie singt, spüre etwas von der Macht des Gesangs. Woher kommt aber diese Macht? Nach Josefine käme sie aus der wahren Kunst, die vom gänzlich unmusikalischen Volk - so die mehrmalige Charakterisierung des Kritikers - überhaupt nicht verstanden werden kann. Durch diese Konstellation wird die einzigartige Stellung Josefines sogar von dem erzählenden Kritiker dargestellt. "An Begeisterung und Beifall fehlt es nicht, aber auf wirkliches Verständnis, wie sie meint, hat sie längst verzichten gelernt" (S. 355). Die Positionen sind hier so gegensätzlich, als wolle Kafka sich mit dem radikalisierten Subjektivismus auseinandersetzen. Auf der einen Seite die Behauptung Josefines, ihr Gesang sei wahre Kunst die in überhaupt keinem Verhältnis zu dem "allgemeinen Volkspfeifen", "jedenfalls leugnet sie also jeden Zusammenhang zwischen ihrer Kunst und dem Pfeifen" (S. 354), wie der Ich-Erzähler berichtet. Auf der anderen Seite seine Meinung, ihr Gesang sei ein Pfeifen das doch nicht nur ein Pfeifen sei, jedenfalls aber nicht den Rang echter, hoher Kunst erreichen würde. Es sei vielmehr ein Pfeifen, das in der Volksgemeinschaft eine bestimmte Funktion, und zwar die der Befriedung und des Zusammenschweißens erfülle.

 "…es ist, als tränken wir noch schnell - ja, Eile ist nötig, das vergißt Josefine allzu oft - gemeinsam einen Becher des Friedens vor dem Kampf. Es ist nicht so sehr eine Gesangsvorführung als vielmehr eine Volksversammlung…" (S. 361).

Josefine besteht aber darauf, daß sie keineswegs verstanden werden kann von dem Volk, das ihr nur schein-andächtig, in Wirklichkeit eher mit dem Kopf im Pelz des Nachbarn vergraben, in Mäuschenstille zulauscht. Doch wird ihr wirklich zugehört? Der Erzähler gesteht:

"Bei ihren Konzerten, besonders in ernster Zeit, haben nur noch die ganz Jungen Interesse an der Sängerin als solcher, nur sie sehen mit Staunen zu, wie sie ihre Lippen kräuselt, (…) in Bewunderung der Töne, die sie selbst hervorbringt, erstirbt und dieses Hinsinken benützt, um sich zu neuer, ihr immer unverständlicher Leistung anzufeuern, aber die eigentliche Menge hat sich - das ist deutlich zu erkennen - auf sich selbst zurückgezogen." (S. 366)

Das Volk dehnt sich in seinem großen und warmen "Bett", es träumt "in den dürftigen Pausen zwischen den Kämpfen", anstatt die Auseinandersetzung mit Josefine als Sängerin und mit deren Performanzen wie in früher Jugend fortzuführen.

6. Fazit: Vom Pfeifen und vom Ende des Pfeifens

Die in diesen Zeilen geäußerte Kritik über das Fehlen eines Zugangs zur Kunst ist unüberhörbar. Das Leben des Volks ist abgespalten von der Kunst, es hat keinen Bezugspunkt mehr zu ihr, die Veranstaltungen sind ein Anlaß, Erfahrungen zu verarbeiten, zu träumen oder sich zu entspannen, auf keinen Fall aber, sich mit Kunst auseinanderzusetzen. So ist Josefine als Prototyp der Künstlerin in der paradoxen Lage, vor dem ganzen Volk zu singen und doch nicht gehört, bewundert für ihren Erfolg und ihre Andersartigkeit doch nicht verstanden zu werden. Das "Pfeifen" wäre demnach nichts anderes als das in einem wechselseitigen Prozeß von der Kunstkritik und dem Volk produzierte und perpetuierte Vorurteil über das Singen ( d.h. die Kunst ), das nur solange von Bedeutung zu bleiben vermag, wie es als Pfeifen seine Funktion innerhalb des kulturellen Selbstverständnisses des Volkes innehat.

Das Nicht-Verstehen Josefines äußert sich auch in dem Konflikt, der schließlich zum Scheitern der Sängerin führt: Es geht um ihre Befreiung von jeglicher Arbeit und um ihren Unterhalt von der Gemeinschaft, als Lohn für ihre künstlerischen Darbietungen. Josefine scheint zu wissen, daß diese Forderung nur erfüllt werden kann, wenn ihre Kunst tatsächlich als solche verstanden und ernst genommen wird, - und da genau dies nicht der Fall ist, wird auch der leider im Stadium der Utopie verbleibende Entwurf von einer von materiellen Sorgen befreiten, sich völlig der inhaltlichen Arbeit widmenden Künstlerin, nicht in die Tat umgesetzt. Josefine wird nicht von dem Gesetz der wirtschaftlichen Nöte und Bekriegungen befreit; das die Richterfunktion übernehmende Publikumsvolk hat dieses Urteil bereits vor dem Aufstellen der Forderung gefällt und "müht sich auch mit der Widerlegung der Gesuchsbegründung nicht sehr ab" (369). Auch dieses Urteil ist völlig irrational, weder sind Maßstäbe oder Gesetzesgrundlagen bekannt, noch wird auch nur ein ernsthafter Versuch unternommen, sich mit Josefines Forderung auseinanderzusetzen. Zudem kommt, daß es keine greifbare richterliche Instanz gibt, sondern daß das gesamte Publikumsvolk in einem intransparenten und jedenfalls undemokratischen Entscheidungsprozeß konsensual bestimmt hat, daß Josefine sich weiterhin mit den alltäglichen wirtschaftlichen Sorgen auseinandersetzen soll.

Die Vagheit bis Widersprüchlichkeit der Begründungssätze verleiht dieser irrationalen Entscheidungsart ihren Eindruck: "Dieses so leicht zu rührende Volk ist manchmal gar nicht zu rühren". (369).

Josefines Kunst wird in die Form des Pfeifens gezwungen, und selbst wenn sie nicht pfeifen sollte, sondern eine andere Art des Gesangs ausüben würde - was ausgehend vom Text unmöglich zu beurteilen ist -, würde ihre Kunst des Gesangs vom Volk zwangsläufig als ein Pfeifen rezipiert werden.

Das "Pfeifen" ist aber auch eine rezeptionsästhetische Projektion des Volkes, um die Kunst in ihrer Macht kontrollierbar, verfügbar, unbedeutend und ersetzbar zu halten. Das Volk weiß seine Macht zu erhalten und sie gegen Ansprüche Einzelner zu verteidigen - und so ist Josefines Schicksal eines, "das in unserer Welt nur ein sehr trauriges werden kann."

Literatur:

1.     Werkausgabe: Josefine, Die Sängerin oder das Volk der Mäuse. In: Kafka, Franz: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hgg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt am Main 1994, S. 350 - 377

2.     Binder, Hartmut (Hrsg.): Kafka-Handbuch. Bd. II. Stuttgart 1979, S. 396-402.

3.     Harter, Deborah: The Artist on Trial: Kafka and Josefine, "Die Sängerin", in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistes-geschichte. Stuttgart und Weimar, 61. Jg. (1987), Heft 1, S. 151-162.

4.     Hayman, Ronald: Kafka. Sein Leben, seine Welt, sein Werk. Bern und München 1983 (S. 346ff.)

5.     Henschen, Hans-Horst: Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Studienausgabe. Hrsg. Von Walter Jens. Bd. 9, München 1996, S. 40f.

6.     Lehmann, Hans-Thies: Der buchstäbliche Körper. Zur Selbstinszenierung der Literatur bei Franz Kafka. In: Lehmann, Hans-Thies: Der buchstaebliche Koerper. Zur Selbstinszenierung der Literatur bei Franz Kafka. In: Kurz, Gerhard (Hrsg.): Der junge Kafka. Frankfurt am Main 1984, S. 213 - 240.

7.     Lubkoll, Christine: Dies Pfeifen ist kein Pfeifen. Musik und Negation in Kafkas Erzählung Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Stuttgart und Weimar, 66. Jg. (1992), Heft 4, S. 748-764.

8.     Robertson, Ritchie: Der Künstler und das Volk. Kafkas "Ein Hungerkünstler. Vier geschichten", in: Text und Kritik. Franz Kafka, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1994, S. 180-191.

9.     Sellinger, Beatrice: Die Unterdrückten als Anti-Helden. Zum Widerstreit kultureller Traditionen in den Erzählwelten Kafkas. Frankfurt / M. u.a. 1982

10.  Vogl, Joseph: Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik. München 1990

 

 

[1] Die Erzählung "Josefine…" schrieb Kafka im April 1924, zwei Monate vor seinem Tod. Sie wurde zusammen mit "Erstes Lied", "Ein Hungerkünstler", "Eine kleine Frau" in Kafkas letztem Buch "Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten" veröffentlicht. Die in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf die Werkausgabe: Kafka, Franz: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hgg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt am Main 1994, S. 350 - 377.

[2] Robertson (s. wie bei weiteren Verfassern die Literaturangaben am Ende des Aufsatzes), S. 180.

[3] Ebd., S. 181.

[4] Sellinger, S. 175.

[5] Zu weiteren Kongruenzkriterien zwischen westeuropäischen Juden und dem Volk der Mäuse, aber auch zu Inkongruenzen wie der "Fruchtbarkeit unseres Stammes" und dem Umgang mit der eigenen Ge- s-chichte vgl. Robertson, S. 188ff.

[6] Lubkoll, S. 754f.

[7] Es heißt auch, daß das Volk keine "vollkommene wahre Kunst" zum gegenwärtigen Zeitpunkt ertragen kann, obwohl es sie früher - wahrscheinlich in friedlicheren Zeiten - gegeben haben soll.

[8] Vogl, S. 223.

[9] Vogl, S. 223.

[10] Lehmann verweist u.a. auf die von Kafka geäußerten Unzufriedenheiten mit den vielen Unzuläng-lichkeiten der Sprache sowie mit den Möglichkeiten des Schreibens als Bewältigung innerer Konflikte.

[11] Vgl. dagegen Hayman, S. 346ff.

[12] Vgl. etwa die Tagebuch-Abschnitte in: Arnold.

[13] Lehmann, S. 240.

[14] Lehmann, S. 233.

[15] Lehmann, S. 213.

[16] Ebd.

[17] Ebd.

[18] Lehmann, S. 214. Er spricht dort vom "Entzug der Referenz" bis hin zur bloßen sinn-entleerten "Sprach-bewegung".

[19] vgl. zu diesem Fragekomplex den Aufsatz von Lubkoll..

 

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